DS FÜFI UND DS WEGGLI?

HABEN WOHNBAUGENOSSENSCHAFTEN EINE ANTWORT AUF ALLES?

In den letzten 100 Jahren haben Wohnbaugenossenschaften für viele Herausforderungen eine Lösung gefunden: zum Beispiel auf kleinem Raum in schwierigen Zeiten für wenig Geld Wohnraum zu schaffen. Doch sind sie fit für die Themen der Zukunft wie Verdichtung, Nachhaltigkeit und veränderte Bevölkerungsstrukturen? Sind ihre Modelle der Selbsthilfe noch zeitgemäss? Oder müssen sie sich neu erfinden?

HAUPTSTADT-GENOSSENSCHAFT: GEMEINSAM DIVERSITÄT SCHAFFEN

Im Hinblick auf das neu entstehende Quartier auf dem Viererfeld schlossen sich im Jahr 2018 dreissig Genossenschaften der Region Bern in der neu gegründeten Hauptstadt-Genossenschaft zusammen. Die neue Genossenschaft will ein Gefäss bieten für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen. Im Herbst 2019 kam die erfreuliche Nachricht von Seiten der Stadt Bern: die neue Genossenschaft wird voraussichtlich 150 Wohnungen in der ersten Etappe bauen können. Im Rahmen eines partizipativen Planungsprozesses unter Einbezug verschiedener Zielgruppen will sie sicherstellen, dass sie Wohnraum für diverse Lebenslagen und Bedürfnisse schaffen kann. Soviel steht schon fest: nebst einem Grossteil an konventionellen Wohnungen ist ein Viertel der Flächen für Gruppen mit pionierhaften Wohnprojekten reserviert. Diese werden schon in der Planungsphase intensiv mit einbezogen. Weiter steht die Genossenschaft im Austausch mit sozialen Institutionen, damit Wohnraum für Personen mit speziellen Bedürfnissen entstehen kann. Ziel ist es, mit diesem Wohnungsmix unterschiedliche Menschen anzusprechen und Räume zu schaffen, wo sie sich begegnen und ergänzen können.

DREI REZEPTE FÜR GEMEINNÜTZIGES WOHNEN

MITGLIEDERGENOSSENSCHAFTEN

Jeder und jede ist ein wichtiger Teil des Ganzen. Bei Mitgliedergenossenschaften sind die Mietenden mit ihren Anteilscheinen auch Genossenschafter*innen. Sie bestimmen also als Besitzer*innen in ihrer Genossenschaft mit.

UNTERNEHMERGENOSSENSCHAFTEN

Als Unternehmer- oder Handwerkergenossenschaften schliessen sich Unternehmen des Baugewerbes, Handwerksbetriebe und Planende zusammen. Ihr primärer Gründungszweck ist die Realisierung von preisgünstigen Wohnungen und die Arbeitsbeschaffung mittels selbstbestimmten Projekten. Wer letztendlich einzieht, ist in der Regel nicht Mitglied der Genossenschaft, sondern Mieter*in.

GEMEINNÜTZIGE AKTIENGESELLSCHAFTEN, VEREINE UND STIFTUNGEN

Investieren in einen guten Zweck: Vereine und Stiftungen kaufen Liegenschaften vom Markt und schützen sie so vor künftigen Preissteigerungen. Ausserdem kaufen sie Grundstücke und erstellen neue, günstige Wohnungen, die sie in Kostenmiete zur Verfügung stellen. Einige bieten der Bewohnerschaft im Rahmen von Hausvereinen Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im direkten Wohnumfeld an.


DIE GARTENSTADT FÜR FAMILIEN?

Die Gartenstadt wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom Engländer Ebenezer Howard entwickelt und war der Gegenentwurf zu den engen und unhygienischen Wohnverhältnissen in der Stadt. Als vor hundert Jahren auch in der Stadt Bern Wohnungsnot herrschte, griff man auf diese Idee zurück. Ausserhalb der kompakten Innenstadt sollten neue Quartiere mit aufgelockerter Bebauung entstehen, Einfamilienhäuser mit Umschwung Natur in die Stadt bringen. Die Gartenstadt Weissenstein, die von 1919-1925 erbaut wurde, war das erste Bauprojekt der Eisenbahner-Baugenossenschaft (EBG) Bern. In den 1960er-Jahren stand die EBG Bern vor einem Problem: die Einfamilienhäuser der Siedlung – eigentlich für Familien gedacht - waren unterbelegt. Es wohnten vermehrt ältere Ehepaare dort, deren Kinder ausgezogen waren. Gleichzeitig war das Wohnen auf drei Stockwerken für manche ältere Mieterinnen und Mieter zu beschwerlich. Daher erweiterte die EBG Bern eine andere Siedlung in Holligen um Alterswohnungen und erfüllte damit die Bedingung der Stadt, auf jener Parzelle altersgerechten Wohnraum zu schaffen. Damit sich die älteren Menschen den Umzug aus ihren Familienwohnungen in eine neue, komfortablere, teurere Alterswohnung leisten konnten, schuf die EBG Bern 1964 das Instrument des Mietzinsausgleichsfonds, der bis heute existiert. Wie in den Anfängen der WBG Bern beträgt der Beitrag auch heute noch zwei Franken pro Wohnobjekt pro Monat. So war es damals möglich, all jenen Mieter*innen der neuen Alterssiedlung, die mit ihrem Auszug aus der Siedlung Weissenstein eine grössere Wohnung freigaben, eine Mietzinsreduktion zu gewährleisten.

Bild: Gartenstadt Weissenstein

ZUSAMMENARBEIT UNTER WBGS – BEISPIEL „GURZELENPLUS“

Sechs gemeinnützige Wohnbauträgerinnen, der Verein für Wohnhilfe Casanostra, die Bieler Stiftung für Betagtenwohnungen und die gemeinnützige Logis Suisse AG haben sich zusammengetan und die Genossenschaft GURZELENplus gegründet. Sie entwickeln gemeinsam das Areal «Blumenstrasse Süd», die erste Bauetappe auf dem Gurzelen-Terrain . Folgende Vision soll auf dem Gelände des ehemaligen Fussballstadions Realität werden: Ein vielfältiges Angebot an konventionellen und alternativen Wohnformen, wie Grosshaushalte und Atelierwohnungen für unterschiedliche Bedürfnisse und für jedes Alter. In einem partizipativen Prozess gestalten Interessierte ihren Wohnraum und das künftige Zusammenleben, das geprägt sein wird von Solidarität und Mitbestimmung. Die Wohnbauträger verstehen die bedürfnisorientierte Projektentwicklung mit hohem Mitwirkungsgrad künftiger Nutzer*innen als Fundament für das Siedlungsleben. Austausch und Begegnung, solidarische Mietmodelle und eine Kultur des Teilens fördern den Zusammenhalt und tragen zur Identifikation bei. GURZELENplus wird klimagerecht bauen und strebt das Ziel «Netto null» an». Das erste Baufeld wird rund 80 Wohnungen für rund 230 Personen und ein Zentrum für Genossenschaften umfassen sowie einem selbstverwalteten Lebensmittelmarkt Platz bieten.

ABSEITS DER ZENTREN VERÄNDERTE WOHNBEDÜRFNISSE ERFÜLLEN

Vereinzelte ländliche Gemeinden sind mit der Frage konfrontiert, wie Gebäude mit Zentrumsfunktionen, z.B. alte Schulhäuser, neu genutzt werden können. Die Rechtsform der Genossenschaft liefert das Gefäss für mögliche Antworten im Interesse der Dorfgemeinschaft. Auf dem Areal des Schulhauses Schmocken in Beatenberg plant die 2017 gegründete «Gemeinnützige Genossenschaft Alterswohnen Beatenberg» den Bau preisgünstiger Alterswohnungen und Gemeinschaftsräume. Die unmittelbare Nähe zum Alters- und Pflegeheim Beatenberg ermöglicht Serviceleistungen wie Mahlzeitendienst und Wäscheservice. In Seeberg (BE) beabsichtigt die 2018 ins Leben gerufene Genossenschaft «Generationen Wohnen Seeberg» das Areal des alten Schulhauses mit zehn kostengünstigen Generationenwohnungen neu zu beleben. Bezugsbereit sind die Wohnungen ca. im Mai 2021.

Bild: Plan der WBG "Generationen Wohnen Seeberg"

UMDENKEN IN DER STADT – AUTOFREIE SIEDLUNGEN

Die Mobilität in den Städten und der Agglomeration wandelt sich. Dank eines Vertrags mit der Stadt Bern war es 2007 erstmals möglich, eine Neubausiedlung autofrei zu realisieren. Damit war die Burgundersiedlung in Bümpliz Süd ein wegweisender Bau. Sie wurde mit dem Zertifikat „2000-Watt-Areal im Betrieb“ ausgezeichnet. Die Bewohnerschaft verpflichtet sich vertraglich, kein Auto regelmässig zu benützen bzw. im Umkreis von ein paar Hundert Metern um die Siedlung abzustellen. 14 Besucherplätze wurden am Siedlungsrand erstellt und können in Härtefällen auch von Siedlungsbewohner*innen genutzt werden. Für Mobility oder siedlungsinternes Carsharing sind Plätze reserviert. Die Burgundersiedlung blieb kein Einzelfall. Auch die Genossenschaft FAB-A in Biel ist autofrei sowie die Wohnbaugenossenschaft „Oberfeld“ in Ostermundigen. Letztere ist nicht nur als Erste mit der Idee der autofreien Siedlung im Kanton Bern gestartet, sondern erstellte auch als Erste eine Mehrfamilienhaussiedlung in Holzbauweise.

Bild: WBG Oberfeld in Ostermundingen

DIE POLITISCHEN FORDERUNGEN NACH MEHR BEZAHLBAREM WOHNRAUM ZEIGEN WIRKUNG

In den vergangenen Jahren hat das Stimmvolk in mehreren Gemeinden des Kantons Bern mehr bezahlbaren Wohnraum gefordert und in Gesetzesartikeln und Reglementen, z.B. in Köniz und Spiez, konkret umgesetzt. 2017 hat die SP in Burgdorf eine Initiative für bezahlbares Wohnen eingereicht. Der Gegenvorschlag der Stadt ist zurzeit noch ausstehend. In Muri wird für eine Initiative für bezahlbaren Wohnraum gesammelt und in Oberhofen wurde eine Initiative zum Thema eingereicht. In Biel wurde die Initiative für einen 20%-Anteil an gemeinnützigen Wohnungen durch das Parlament in ein behördenverbindliches Reglement überführt. In der Stadt Bern nahm 2014 das Stimmvolk mit einer grossen Mehrheit von 72% die Wohninitiative an, die vorschreibt, dass bei Um- und Neueinzonungen von Wohnzonen mindestens ein Drittel preisgünstige Wohnungen erstellt werden. Die politischen Forderungen nach gemeinnützigem Wohnungsbau hatten auch direkte Auswirkungen auf einzelne Arealentwicklungen: So wird in Biel, im Gurzelen-Quartier auf dem Gebiet des ehemaligen Fussballstadions, zu 100% gemeinnützig gebaut. Wie viele gemeinnützige Wohnungen im Agglolac-Projekt am Bielersee realisiert werden, ist noch offen. In Thun hat das Parlament 2020 den Anteil genossenschaftlicher Wohnungen auf dem Freistattareal auf 45% festgelegt. In der Stadt Bern sind auf dem Holliger-Areal und dem Mutach-Areal 100% der rund 400 im Bau befindlichen Wohnungen gemeinnützig, in den neu entstehenden Quartieren auf dem Gaswerkareal, dem Vierer- und Mittelfeld werden mindestens 50% der Flächen durch gemeinnützige Wohnbauträger realisiert. In weiteren Gemeinden (Langnau, Münsingen, Rubigen, Wohlen u.a.) sind Interessierte mit den Gemeindebehörden daran, Möglichkeiten für gemeinnützige Wohnbauprojekte zu konkretisieren.

SMARTE WOHNUNGEN ALS REAKTION AUF STEIGENDE MIETEN – BEISPIEL AUS WIEN

Als Antwort auf die grösser werdende Wohnproblematik durch steigende Mieten in Wien hat die Stadt ein neues Wohnbauprogramm entwickelt. So genannte Smart-Wohnungen, die sich speziell für Jungfamilien, Paare, Alleinerziehende und Singles eignen. Ziel ist es, die Wohnungen durch ideale Flächennutzung für die Bewohnerschaft optimal zu gestalten, wodurch Kosten eingespart werden sollen. Das Konzept sieht keine Smart-Gebäude im Ganzen vor, sondern in andere geförderte Wohnprojekte eingegliederte Einzelwohnungen, verteilt über die ganze Stadt. Es gibt fünf Typen von Smart-Wohnungen mit vorgeschriebener maximaler Grösse. Diese reichen vom Typ A (1 Zimmer mit max. 40m2) über Typ C (3 Zimmer mit max. 70m2) bis Typ E (5 Zimmer mit max. 100m2).

(Hinweis zur Einordnung der Flächenangaben: Gemäss einer Studie des Schweizer Bundesamtes für Wohnungswesens von 2017 liegt der Pro-Kopf-Wohnflächenverbrauch in der Schweiz bei Genossenschaftswohnungen bei 36,5m2, bei Mietwohnungen bei 42,4m2 und bei Eigentumswohnungen bei 52,2m2.)