NOT MACHT ERFINDERISCH

SICH IMMER WIEDER NEU ZU ERFINDEN, ERFORDERT MUT

Wohnbaugenossenschaften sind seit jeher innovativ und nachhaltig unterwegs. Damals durch die Entwicklung der so genannten Gartenstadt als neue, grüne Siedlungsform und heute, wenn es darum geht, auf Brachen und bei Umnutzungen neuen Wohnraum zu schaffen. Gemeinnützige Bauträger erstellen nicht nur Wohnungen. Sie entwickeln Quartiere sowie ganze Stadtteile, beleben mit Läden und Gewerbe unsere öffentlichen Räume und investieren in erneuerbare Energien. Sie planen für unterschiedliche Bedürfnisse – von der Wohngemeinschaft über Familienwohnungen bis hin zum Wohnen im Alter.

DIE JUNGEN WILDEN UND IHRE WURZELN

Bern: Im Zuge der bewegten 1980er-Jahre, geprägt von der Räumung des Zelt- und Wagendorfs Zaffaraya auf dem Gaswerk-Areal, den mehrwöchigen Demonstrationen und der Besetzung des autonomen Kulturzentrums Reitschule formierte sich die Bewegung für genossenschaftlichen, bezahlbaren Wohnraum in der Stadt Bern neu. Die Häuserbesetzungsoffensive und die Forderung nach selbstverwaltetem, genossenschaftlichen Wohnraum stiessen bei der neuen Rot-Grün-Mitte-Mehrheit im Gemeinderat in den 1990er-Jahren noch nicht auf fruchtbaren Boden. Zwar konnten ein paar weniger städtische Liegenschaften durch selbstverwaltete Genossenschaften im Baurecht übernommen werden (z.B. Quartierhof 1996, Giebel 1997 und Opossum 1998), doch die Stadt fokussierte sich weiterhin primär auf die Schaffung von Wohnraum für «gute Steuerzahler». Deshalb gründeten die neu entstandenen, selbstverwalteten Genossenschaften anfangs der Nullerjahre die AG Wohnen. Sie lancierten im Sommer 2004 eine politische Kampagne gegen den Verkauf von 87 städtischen Liegenschaften mit Hunderten von Wohnungen und für die Neuausrichtung und Neubesetzung des «Fonds für Boden und Wohnbaupolitik». Erfolgreich war auch der erste politische Vorstoss der AG Wohnen. Die zuhanden der SP formulierte Motion für 50% gemeinnützigen Wohnungsbau auf dem Areal Warmbächli fand drei Jahre später im Stadtrat eine Mehrheit und konnte dank der gesellschaftlichen Akzeptanz im Nachhinein auf 100% gesteigert werden. Heute hat sich das Blatt gewendet: 50% gemeinnützige Anteile auf dem Viererfeld- und dem Gaswerk-Areal, 72% Ja-Stimmen zur Berner Wohninitiative «Wohnen für Alle» und eine gemeinderätliche Wohnstrategie, die auf den gemeinnützigen Wohnungsbau setzt – und eine AG Wohnen, die sich vermehrt auf die dichtere Vernetzung der kleinen Genossenschaften konzentriert.

Biel: Die Industriestadt Biel litt seit den 70er-Jahren an den Folgen der Uhrenkrise. Erst in den Nullerjahren erholte sich die Stadt langsam wieder. Trotz autonomer Jugendbewegung und des daraus resultierenden ersten autonomen Jugendzentrums der Schweiz standen alternative Wohnbauprojekte nicht im Fokus. Die Stadt verzeichnete einen massiven Bevölkerungsschwund – zwischen 1970 und 2000 sank die Einwohnerzahl von 65'000 auf 48'500 Personen. Vereinzelt fanden Hausbesetzungen statt, diese wurden weitgehend toleriert, da kein akuter Wohnungsmangel herrschte. So mussten neue Wohnformen auf politischer Ebene eigentlich nie erstritten werden. Die bestehenden Wohnbaugenossenschaften, noch geprägt von der Krise, fokussierten sich grösstenteils auf das Verwalten ihrer Bestandsbauten. Als anfangs 2000 in Biel der Bedarf an neuem Wohnraum wieder stieg, wurden insbesondere die privaten Investoren wieder aktiv. Der Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus sank kontinuierlich von über 25% auf heute noch ca. 15%. Ab 2010 zeigten die Genossenschaften wieder Mut zum Aufbruch. Neue Wohnbaugenossenschaften, beispielsweise die Genossenschaft „FAB-A“, nahmen sich dem wachsenden Bedürfnis des selbstbestimmten Wohnens an. In der Entstehung und im Betrieb bewies die FAB-A als kleines innovatives Lab, dass alternative Wohnformen nicht nur in grösseren Städten möglich sind.

Bild: FABA Strassenfest 2019 ©Stefan Hofmann

WBG „ZUKUNFT WOHNEN“ – Ein MODELL DER ZUKUNFT in Thun?

Basierend auf dem langjährigen Engagement des Vereins „zukunft wohnen“ wurde im Oktober 2018 die Wohnbaugenossenschaft „ZUKUNFT WOHNEN“ gegründet. Die WBG hat zum Ziel, innovatives Generationenwohnen in Thun zu realisieren und in Mitverantwortung ihrer Mitglieder guten und preisgünstigen Wohnraum zu schaffen, der allen Bevölkerungskreisen offen steht. Sie orientiert sich an den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft, möchte Raum schaffen sowohl für Individualität als auch für Gemeinsamkeit und sich mit ihren Projekten für lebendige Quartiere im Raum Thun engagieren. Die WBG fördert das Zusammenleben im Sinne gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und gegenseitiger Solidarität. Mit Vernetzungsanlässen stärkt sie den Austausch verschiedener lokaler Akteure und beschäftigt sich als kreativer Think Tank mit dem Thema Wohnen in Thun. So möchte ZUKUNFT WOHNEN auch gemeinsam mit den bestehenden Thuner Wohnbaugenossenschaften und anderen lokalen Akteuren ein zukunftsweisendes Leuchtturmprojekt auf dem Areal Bostudenzelg in Thun realisieren.

Bild: WBG ZUKUNFT WOHNEN - "Zusammen nachhaltig wohnen und ein lebendiges Quartier mitgestalten"

NEUE NUTZUNGEN FINDEN: FABRIKEN, HOTELS, BAUERNHÖFE FRISCH BELEBT

In Huttwil im Emmental verlangten die leeren, weitläufigen Räume der alten Möbelfabrik Aebi nach einer sinnvollen Nutzung. Ein paar Unerschrockene fanden eine Lösung: mit der Gründung einer Wohn- und Gewerbegenossenschaft soll in der Fabrik eine befruchtende Mischung aus Arbeiten und Wohnen geschaffen und eine Brücke vom Alten ins Neue geschlagen werden. Heute verfügt die Genossenschaft über 17 Wohnungen.

In Ligerz, einer Gemeinde am Bielersee, wartete das Hotel Kreuz auf eine neue Nutzung. Seit 2020 ist die Wohnbaugenossenschaft «Zuhause am Bielersee» stolze Eigentümerin des Hotels. Ihr Ziel: die Hotelzimmer in hindernisfreie Wohnungen vornehmlich für die ältere Bevölkerung in Ligerz und der Region umbauen. Das Restaurant am See wurde Mitte Juli bereits wiedereröffnet. Auch in Wilderswil wird ein Hotel neu belebt. Ab 2021 sollen 30-40 Menschen aus mehreren Generationen im um- und ausgebauten Hotel Belmont und dem neu erbauten Familienhaus wohnen. Am Werk ist die Genossenschaft «Lebensraum Belmont».

Auch Bauernhöfe werden immer wieder von frisch gegründeten Genossenschaften umgebaut und neu belebt. Oft wird dabei mit gemeinschaftlichen Wohnformen experimentiert, wie beispielsweise die WBG «Solidarisch Wohnen» in Urtenen-Schönbühl, die WBG «Wohlen-Bern» in Säriswil und die WBG «Wandelhof» in Gümmenen.

Bild: WBG Wandelhof in Gümmenen

FRÜHER DAS EINKÜCHENHAUS – HEUTE DIE GEMEINSCHAFTSKÜCHE

Wohnkonzepte mit der Idee von Cluster-Wohnungen und/oder Gemeinschaftsküchen haben ihre Ursprünge in den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Mit dem Umbruch von Familien- und Wohnstrukturen zu Beginn der Industrialisierung entstanden in Grossstädten wie Kopenhagen (1903), Berlin (1908, 1909), Zürich (1916) und Amsterdam (1928) so genannte Einküchenhäuser. Die Grundidee der Zentralküchenhäuser, wie sie auch genannt wurden, war die Entlastung von der Hausarbeit und die Förderung gemeinschaftlicher Aktivitäten unter den Bewohner*innen. Das unter anderem auf die Frauenrechtlerin Lily Braun (1865–1916) zurückgehende Konzept reagierte auf den Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt und das Verschwinden der Grossfamilie. Viele solcher Mehrparteienwohnhäuser beherbergten neben einer Grossküche weitere Gemeinschaftsangebote wie Wäschereien, Bibliotheken oder Kindergärten.

Heutzutage wird die Idee der Gemeinschaftsküche vermehrt wieder aufgenommen, wie beispielsweise von der 2018 gegründeten Wohnbaugenossenschaft «Solidarisch Wohnen»: In Urtenen-Schönbühl realisiert eine Gruppe von 23 Erwachsenen mit Kindern in einem grossen Bauernhaus auf einem Grundstück von mehr als 3’800m2 ein Wohnprojekt mit einer grossen Gemeinschaftsküche.

ZUKUNFTSMUSIK - AUF DEM WEG ZUR 2000-WATT-GESELLSCHAFT

Steht ein Umbau an, lohnt es sich, mehr aus der Liegenschaft zu machen. Immer mehr gemeinnützige Bauträger nutzen diese Phase dazu, auch ihre Energiebilanz im Sinne der 2000-Watt-Gesellschaft zu verbessern. Dafür beschreiten sie verschiedene Wege. Sicherlich sorgen kleinere Grundrisse – also weniger Wohnraum pro Person, der beheizt werden muss – alleine schon für einen tieferen Grundbedarf. Kontrollierte Lüftungen verhindern zudem Energieverlust und führen die Abwärme in den Energiekreislauf zurück. Photovoltaik und Erdwärmesonden gehören inzwischen schon fast zum Standard. Einzelne Genossenschaften haben zudem Lösungen für die Speicherung von Sonnenenergie in riesigen Wasserstofftanks entwickelt und sogar unabhängige, schadstofffreie Kreisläufe zur Energieproduktion und -speicherung mit Methangasanlagen realisiert.

Die gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft "Freistatt" in Thun strebt für ihre Ersatzneubausiedlung umfassende Nachhaltigkeit an - ökologisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell. Innovative, auf Low-Tech basierende Wohn- und Baukonzepte sollen dem Spannungsfeld zwischen Ökologie und kostengünstigem Wohnen Rechnung tragen. Die Baukonzepte orientieren sich an den Richtlinien der 2000-Watt-Gesellschaft und werden den Standard nachhaltiges Bauen Schweiz als Werkzeugkasten nutzen. Der Einzug ist voraussichtlich 2025 geplant.

Die Wohnbaugenossenschaft „WeitWohnen“ in Solothurn sieht sich als zukunftsgerichtetes, nachhaltiges Wohnprojekt für Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft mit Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen. Sie orientiert sich am Modell der 2000-Watt-Gesellschaft und hat sich zum Ziel gesetzt, «den sich abzeichnenden Klimawandel in einem für die Menschen und den Planeten tragbaren Mass zu halten».

Beispiel Siedlung Burgunder Bern: Die beiden gemeinnützigen Aktiengesellschaften npg AG und wok Burgunder AG realisierten 2011 die erste autofreie Siedlung Burgunder mit 80 Wohnungen, die sich bezüglich der Bauweise der Wohnhäuser und der Organisationsform mit selbstverwalteten Hausvereinen den drei Nachhaltigkeitsaspekten Ökologie, Ökonomie und Soziales verschrieben hat. Sie gehört mit dem Zertifikat «2000 Watt Areal im Betrieb» zu den sechs im 2018 vom Bundesamt für Energie ausgezeichneten Überbauungen.

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WO FINDE ICH EINE BOHRMASCHINE?

Den Genossenschaftsgedanken haben verschiedene Organisationen im Bereich Sharing Community im In- und Ausland weiterentwickelt: Warum soll jeder Haushalt selbst eine Bohrmaschine oder ein eigenes Auto kaufen, wenn man sie mit den Nachbarn teilen kann? Auch Dienstleistungen werden inzwischen angeboten: einkaufen und Lampen installieren, Kinder hüten und mehr. Auf der österreichischen Plattform fragnebenan.com haben sich bereits über 55 000 Nachbar*innen digital vernetzt. Ganz analog funktioniert pumpipumpe.ch: Was 2012 in Bern als kleines Projekt begann, hat sich rasant weiterentwickelt. Heute signalisieren europaweit mittlerweile mehr als 20’000 Briefkästen mithilfe von Stickern, was im entsprechenden Haushalt ausgeliehen werden kann.

CARSHARING

Viele Genossenschaften waren in den letzten Jahren damit konfrontiert, dass sie die gesetzlich geforderten Parkplätze zwar erstellt haben, aber nur schwer vermieten konnten. Bau- und Zonenordnung bestimmen die Zahl der Abstellplätze abhängig von der Umgebung, der Nutzweise des Grundstücks und vom Anschluss der Wohnungen an den öffentlichen Verkehr. Dies führt in der Regel zu einem Parkplatz pro Wohnung. Die Kosten der Leerstände mussten in den Genossenschaften über die Wohnungen querfinanziert werden. Doch nun weht ein neuer Wind: Das grössere ökologische Bewusstsein und die Erkenntnis, dass Mobilität einen hohen Anteil des CO2-Ausstosses ausmacht, haben zu einer Reihe von autoarmen oder autofreien Siedlungen geführt. Und wenn ab und an trotzdem ein Auto benötigt wird, stehen Carsharing-Angebote zur Verfügung. Die schweizerische Carsharing-Genossenschaft Mobility unterhält zum Beispiel eine Flotte von 3120 Autos an 1’480 Standorten in der ganzen Schweiz. Diese Fahrzeuge sind rund um die Uhr und in Selbstbedienung zugänglich und entsprechen einer neuen Sharing-Mentalität, die sich gesellschaftlich immer mehr durchsetzt.

ZWISCHENHALT BEI GENOSSENSCHAFTEN

Immer mehr Wohnbaugenossenschaften richten in ihren Liegenschaften möblierte Gästezimmer ein. Ein grosser Vorteil für die Mieterinnen und Mieter, die so auf ein eigenes Gästezimmer verzichten und eine kleinere Wohnung mieten können. Die Idee gemeinsamer Gästezimmer zieht noch weitere Kreise: Zur besseren Auslastung und als besondere Dienstleistung haben sich nun zahlreiche Genossenschaften aus Deutschland und der Schweiz zum GäWoRing (Gästewohnungs-Ring) zusammengeschlossen. Als Mitglied einer der beteiligten Genossenschaften kann man bei einer ebenfalls angeschlossenen Genossenschaft günstig ein Gästezimmer, ein Appartement oder eine ganze Gästewohnung in einer anderen Stadt buchen.


NOT MACHT ERFINDERISCH: ECOQUARTIER MEYRIN

Keine Gemeinde zont gerne Wiesen in Bauland um. In Meyrin sah man allerdings keine andere Möglichkeit, denn die Wohnungsnot am CERN-Standort ist gravierend. Wenn schon, so fanden die Verantwortlichen, sollte wenigstens etwas Beispielhaftes entstehen. Das Ergebnis: das Ecoquartier Les Vergers. Auf der Fläche von 150’000 Quadratmetern mit 1’300 Wohnungen ist Nachhaltigkeit das grosse Ziel. Das schlägt sich zum einen ganz konkret im Standard Minergie A nieder, den alle Bauten im neuen Quartier erfüllen müssen. Ein ausgeklügeltes Konzept sorgt dafür, dass die Häuser die Energie, die sie für Heizung und Warmwasser verbrauchen, selbst produzieren: Über eine bestehende Leitung wird Wasser aus der Rhone zunächst in eine nahe Industriezone geführt, wo es zur Kühlung der Anlagen genutzt wird. Das nun vorgewärmte Wasser fliesst dann zum Ecoquartier, wo Wärmepumpen für die nötige Brauchtemperatur sorgen. Der Strombedarf der Pumpen wird von Photovoltaikanlagen auf den Hausdächern gedeckt. Nachhaltigkeit versteht die Gemeinde aber auch in einem umfassenden sozialen Sinn: rund die Hälfte der Parzellen wurde an gemeinnützige Baugenossenschaften vergeben. Sie sorgen dafür, dass bezahlbare Wohnungen erstellt werden und die Durchmischung der Bewohnerschaft gewährleistet ist. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Erdgeschossnutzungen: Gemeinschaftliche Einrichtungen, Gewerbe und Geschäfte sollen dafür sorgen, dass die eingesessenen Meyrinois und die Zuzüger zusammenfinden. Die Einwohner*innen waren daher auch von Anfang an in einem partizipativen Prozess in die Projektentwicklung eingebunden.

Stadtrat Pierre-Alain Tschudi bringt es auf den Punkt: «Es geht uns nicht nur darum, ein Quartier zu bauen, das auf architektonischer, energetischer und technischer Ebene beispielhaft ist, sondern auch eines, das sich die Bewohner wirklich aneignen können, das lebt und eine Seele hat.»

Bild: Das Ecoquartier "Les Vergers" in Meyrin ©Elisa Larvego 2019